An das einst lebendige Wirken und an die Geschichte der jüdischen Einwohner Bad Liebenstein erinnert heute im öffentlichen Raum der Kurstadt nichts mehr. Ihre Spuren sind verschwunden und die individuellen Schicksale dem kollektiven Vergessen anheimgefallen. Dabei lebten jüdische Familien vermutlich bereits seit dem 17. Jahrhundert im Altensteiner Oberland, wie die Holocaustüberlebende und ehemalige Bad Liebensteinerin Margot Merin 1997 in einem Interview berichtete.

In der Nachbargemeinde Barchfeld ist eine jüdische Gemeinde bereits seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar und ein jüdischer Friedhof noch heute erhalten. Auch in Bad Liebenstein und Umgebung gab es bis in die 1930er Jahre einen jüdischen Bevölkerungsteil und mit der Synagoge in Barchfeld eine aktive jüdische Religionsgemeinschaft in der Region.

Aus der Gegenwartsperspektive betrachtet, waren die Orte jüdischen Lebens und Wirkens für eine kleine Gemeinde wie Bad Liebenstein einst sehr vielfältig. Es gab u.a. nicht nur ein streng koscher geführtes Restaurant nebst dazugehöriger Pension, sondern auch ein von der Familie Liebenstein geführtes Kaufhaus und einen jüdischen Familienfriedhof an der Bahntrasse zwischen Bad Liebenstein und Steinbach.

Mit der antisemitischen Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten wurde auch hier das jüdische Leben nahezu vollständig zerstört. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 überfielen und verwüsteten SA-Männer auch in Bad Liebenstein die Geschäftsräume und Privatwohnungen von Jüdinnen und Juden, die in der Folgezeit entweder zur Zwangsarbeit, in die Emigration und oder in den Selbstmord gezwungen wurden. Einige fanden in Gefangenschaft einen gewaltsamen Tod.

In Bad Liebenstein und seinen heutigen Ortsteilen Schweina und Steinbach wurden in verschiedenen Betrieben, u.a. in der Kammwollspinnerei und in der Messerproduktion, über 200 Personen zur Zwangsarbeit genötigt. Neben Kriegsgefangenen verschiedener Nationalität befanden sich unter den Zwangsarbeitern auch Jüdinnen und Juden aus der Region und solche, die aus Russland und der Ukraine nach Deutschland verschleppt worden waren. Untergebracht waren sie im „Gemeinschaftslager Wangemannsburg“ sowie in betriebseigenen Barackenlagern in Steinbach und Marienthal.

Von den überlebenden jüdischen Einwohnern Bad Liebensteins kehrte nach 1945 kaum jemand in die ehemalige Heimat zurück. Die Namen und Lebensgeschichten der einstigen Nachbarn, Mitschüler und Kollegen mit jüdischer Herkunft sind vergessen, eine ganze lokale Kultur, ein ganzer Teil der Bevölkerung ging unwiderruflich verloren. Die Nachfahren leben heute u.a. in den USA oder in Südafrika und konnten sich fernab des Geburts- und Heimatortes ihrer Eltern und Großeltern eine neue Existenz aufbauen. Im September 1996 verstarb mit Adele Schiffman die letzte jüdische Einwohnerin Bad Liebensteins, die nach einer langen Odyssee der politischen Verfolgung 1960 nach Bad Liebenstein kam und dort bis zu ihrer Rente als Heim- und Sanatoriumsleiterin aktiv war.

Spurensuche gegen das Vergessen

Das Themenjahr unter dem Motto „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen‟ wollen wir zum Anlass nehmen, um mit dem Projekt „Jüdisches Leben in Bad Liebenstein Eine Spurensuche‟ an die ehemaligen jüdischen Bürger und Bürgerinnen Bad Liebensteins, ihr Wirken und ihr Schicksal zu erinnern und damit zur Etablierung einer demokratischen Erinnerungskultur beitragen. Wir wollen die Orte jüdischen Lebens wieder wahrnehmbar machen und jungen Menschen die Möglichkeit geben, einen vergessen Teil der lokalen Geschichte zu erkunden. Mit unserer Arbeit knüpfen wir an die langjährigen Recherchen von Wolfgang Malek an, der für die „Natur- und Heimatfreunde Bad Liebenstein‟ bereits zahlreiches Material über die Geschichte der jüdischen Bevölkerung Bad Liebenstein zusammengetragen hat. Die bereits vorhandenen, aber auch neue Forschungs- und Rechercheergebnisse wollen wir aufgearbeitet einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dazu werden wir zukünftig auf unsere Homepage Informationen zu Familiengeschichten, persönlichen Schicksalen, den Orten jüdischen Lebens und der lokalen antisemitischen Verfolgungspraxis als auch weiterführendes Bildungsmaterial zusammenstellen. Der Blick soll dabei auch auf das System der nationalsozialistischen Zwangsarbeit gerichtet werden, über dessen regionale Ausformung bisher wenig bekannt ist. Die Dokumentation der Projektergebnisse soll in Form einer Broschüre im kommenden Jahr erfolgen.

Wer wir sind

Die Geschichtswerkstatt Bad Liebenstein ist ein von engagierten Einzelpersonen in Kooperation mit den Natur- und Heimatfreunden Bad Liebenstein initiiertes Projekt. Wir verstehen uns als offene Arbeitsgruppe für historisch Interessierte, welche die Erforschung der jüngeren Regionalgeschichte und eine demokratische Erinnerungskultur fördern möchten. Wer bei der Geschichtswerkstatt mitarbeiten möchte, kann sich gern per E-Mail an uns wenden. Ansonsten freuen wir uns über Unterstützung bei der Recherche: Meldet euch bei uns, wenn ihr wenn alte Dokumente und Bilder habt oder über Berichte der Eltern und Großeltern verfügt, welche die jüdische Geschichte Bad Liebensteins oder die regionalen Stätten der Zwangsarbeit betreffen.

Unsere Ziele

Die Geschichtswerkstatt Bad Liebenstein möchte die regionale Geschichte gerade für jüngere Menschen erfahrbar und die oft vergessenen und verdrängten Schicksale und Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte der öffentlichen Wahrnehmung zugänglich machen. Die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung gehört für uns ebenso zu einer zeitgemäßen und demokratischen Erinnerungskultur, wie die Auseinandersetzung mit DDR und den sozialen und kulturellen Umbrüchen der Nachwendezeit. Ein kritisches Bewusstsein für die eigene historische Herkunft ist gerade für junge Menschen eine wichtige Hilfe, um die eigene ethische Urteilsfähigkeit in einer zunehmend komplexen und politisch polarisierten Gesellschaft nicht zu verlieren. Der Antisemitismus und der Hass auf Minderheiten sind auch heute noch virulente Probleme. Fremdenfeindliche und antisemitische Einstellungen begegnen uns sowohl in der Schule, am Arbeitsplatz als auch in politischen Diskussionen im öffentlichen und privaten Bereich. Die Vermittlung von historischem Wissen und gesellschaftlichen Zusammenhängen kann ein Baustein bei der Stärkung individueller Urteilsfähigkeit und der Auflösung antidemokratischer und menschenverachtender Einstellungen sein. Mit der Geschichtswerkstatt möchten wir einen Beitrag zu einer offenen und demokratischen Kultur leisten. Eine solche kann nur bestehen, wenn wir uns der politischen Katastrophen des letzten Jahrhunderts erinnern und wir dies gerade im Hinblick auf die konkreten Schicksale und Ereignisse vor Ort tun.

Geschichtswerkstatt Bad Liebenstein, September 2021

Das Projekt wird gefördert durch die lokale Partnerschaft für Demokratie „Denk bunt im Wartburgkreis“ im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ und des Thüringer Landesprogramms für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit DENK BUNT.